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arum nur bekümmerte Trix, den einzigen und rechtmäßigen Erben des Co-Herzogs Rett Solier, sein Äußeres so sehr?Er stand vor einem alten, trüben Spiegel, der schon seit drei Generationen im Schlafgemach der männlichen Erben hing, und betrachtete skeptisch sein Spiegelbild. Daran war der Spiegel gewöhnt. Er kannte die entsetzten Gesichter beim Anblick eines sprießenden Pickels oder jener Kratzer, die eine ungeschickte und noch vor dem ersten Bartwuchs gewagte Rasur hinterlassen hatte, schließlich achteten alle jungen Co-Herzöge im Hause Solier auf ihr Äußeres. Zumindest auf die wichtigen Details: ob die Hosen zugeknöpft waren, ob sich die Taschen nicht zu sehr beulten, weil sie mal wieder eine Menge interessanter Dinge enthielten (die natürlich kein Erwachsener billigte), ob die Haare nicht nach allen Seiten abstanden und ob der frische blaue Fleck gut gepudert war (Puder war für die Angehörigen beiderlei Geschlechts unersetzlich).
Trotzdem schlug Trix irgendwie aus der Art. Die traditionellen Beschäftigungen für Kinder wie Jagd und Fechten hatte er nie gemocht, stattdessen las er und verbrachte viel Zeit mit den Hofzauberern und Chronisten. Was ihn am Jagen und Fechten jedoch am meisten störte, war, dass es Beschäftigungen für Kinder waren. Zu seinem Leidwesen hatte auch noch seine Mutter, die Herzogin Solier, gewisse Probleme mit seinem Alter (und auch mit ihrem eigenen, denn sie war nun schon fünfzehn Jahre lang fünfundzwanzig). So hatte sie ihm zum letzten Geburtstag ein prächtiges Pferd geschenkt, einen Apfelschimmel. An dem hätte Trix nicht das Geringste auszusetzen gehabt – wäre er nicht aus Holz und mit Rädern gewesen. Morgen, zu seinem vierzehnten Geburtstag, sollte er »sehr hübsche Büchlein« bekommen. Zwar teilte Trix unbedingt die Ansicht, Bücher seien die schönsten Geschenke, seine Freude zügelte er aber trotzdem. Er vermutete nämlich, es würde sich um Bücher mit Bildern handeln – und gewiss nicht mit solchen, wie er sie aus dem Folianten Eichenzweig und Lotusblume kannte, den er sich heimlich aus der herzoglichen Bibliothek besorgt hatte.
Doch zurück zu Trix’ Spiegelbild. Fangen wir oben an. Oben waren die Haare. Schwarze Haare. Trix hätte blonde bevorzugt, zur Not auch rote, denn das wäre immerhin ungewöhnlich gewesen.
Alles in allem fand er sein Haar aber
akzeptabel. Dann folgte das Gesicht, das Trix besonders aufmerksam
musterte. An den Einzelheiten war eigentlich nichts auszusetzen.
Stirn und Nase hatte er vom Vater, die Ohren von der Mutter,
normale Ohren übrigens, keine Segel-, Spitz- oder Riesenohren. Auch
über den Mund beschwerte sich Trix nicht, schließlich erfüllte er
seine Funktion tadellos. Das Kinn war nicht besser und nicht
schlechter als jedes andere Kinn auch – sah er mal vom fehlenden
Bartwuchs ab.
Was Trix aber überhaupt nicht gefiel, war die Art und Weise, wie
sich diese Teile zusammensetzten. Was dabei herauskam, ließ sich
nämlich nur mit dem hässlichen Wort »Jüngling«, ja sogar mit dem
noch schrecklicheren Wort »Junge« bezeichnen, auf keinen Fall aber
mit »junger Mann«.
Zu allem Überfluss wirkte das Ergebnis auch noch absolut harmlos.
Ob daran die vollen Lippen schuld waren? Trix presste sie
aufeinander – und der Jüngling im Spiegel verwandelte sich in einen
widerwärtigen Kerl. Diesen Trix brauchte man bloß anzusehen und
schon wollte man das Herzogtum stürzen; den Mut und die Tapferkeit
eines alten Geschlechts verkörperte er jedenfalls nicht.
»Ei pottstausend!«, fuhr Trix den Spiegel an. »Du blödes
Ding!«
Der Spiegel tat so, als habe er mit der Sache nichts zu
tun.
Trix wandte sich um und stapfte zur Tür. Ihm stand ein weiterer
öder Tag bevor, vollgestopft mit den Pflichten eines Thronfolgers.
Noch dazu ein Empfangstag. Da hieß es, zunächst den väterlichen
Unterhandlungen mit Kaufleuten, Pächtern und Gildemeistern
beizuwohnen. Sie alle wollten weniger zahlen und mehr verdienen. Da
genau das auch der Co-Herzog Rett Solier wollte, zogen sich diese
langweiligen Gespräche immer ewig hin.
Anschließend musste Trix selbst empfangen. Natürlich durfte er noch
keine Fragen von Bedeutung klären, sondern hatte Kinderprobleme zu
lösen. Zum Beispiel, wenn die Lehrlinge der Schmiedegilde eine
Schlägerei mit den Lehrlingen der Bäckergilde angefangen hatten.
Wer übrigens glaubt, dabei hätten die unschuldigen
Nudelholzschwinger von den muskulösen Hammerschmieden eins auf die
Nase gekriegt, befindet sich auf dem Holzweg. Die Gehilfen der
Schmiede stehen ja die meiste Zeit am Amboss, pressen glühendes
Metall mit einer Zange zusammen oder treten den Blasebalg. Diese
Beschäftigungen kommen einzelnen Muskeln zugute, nicht aber dem
Körper insgesamt. Ganz anders dagegen die Bäckerjungen, die schwere
Mehlsäcke oder Bleche mit Backwaren schleppen müssen. Obendrein
kriegen Schmiedelehrlinge nie genug zu essen, während Bäckerjungen
gar nicht wissen, was Hunger ist.
Oder wenn sich Kinder kleiner Diebstähle und Gesetzesverstöße
schuldig gemacht hatten, die es nicht wert waren, von der
städtischen Wache untersucht zu werden. Waisen und Söhne, die zu
Unrecht von ihren Eltern ausgepeitscht wurden, baten Trix um Hilfe.
Kurz und gut, es galt als heilige Pflicht eines jeden jungen Erben,
am Beispiel seiner Altersgenossen die Bedürfnisse seines Volkes
kennenzulernen.
So ging Trix denn schnurstracks in den Thronsaal. Die Tür stand
halb offen, die andere, zum Palastvorhof führende Tür war noch
verschlossen. Sein Vater saß bereits auf dem Halben Thron, einer
Metallkonstruktion, die zwar durchaus bequem war, aber aussah, als
handle es sich nur um die Hälfte eines riesigen Throns. Hier und da
lugten die Spitzen oder Griffe von Schwertern hervor.
»Trix«, begrüßte sein Vater ihn mit einem verschämt warmherzigen
Blick.
»Eure Hoheit.« Trix verbeugte sich und ging zu der kleinen Bank
links des Halben Throns, die ebenfalls aus Metall und ebenfalls aus
feindlichen Klingen geschmiedet worden war. Er nahm Platz. Wie
schon so oft ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er seinen
Feinden weit mehr Sympathie entgegenbrächte, wenn sie mit Kissen
und Strohkeulen kämpfen würden.
Nun öffneten zwei Palastwachen die Tür zum Palastvorhof, damit die
Untertanen zur Audienz in den Thronsaal strömen konnten.
Der Tag begann.
Entgegen allen Erwartungen waren die Ersten in der Reihe keine
Untertanen Soliers, sondern Ritter vom CoHerzog Sator Gris. Sie
trugen Uniform, gemäß der Hofetikette aber keine Panzer und
Waffen.
Trix äugte zu seinem Vater hoch. Der betrachtete die Ritter mit
unverhohlener Neugier.
»Eure Hoheit!« Der älteste Ritter ließ sich auf die Knie nieder,
die anderen folgten seinem Beispiel.
»Steht auf, edler Herr«, sagte der Co-Herzog Rett Solier.
»Wir sind gekommen, um unsere Entschuldigung für die Ereignisse des
gestrigen Abends vorzubringen.« Der Ritter machte keine Anstalten,
sich zu erheben. »Wir vertrauen auf die Güte Eurer Hoheit
…«
Trix fing an, sich zu langweilen. Er hatte schon gehört, dass es
gestern in einer Bierstube eine Schlägerei zwischen den Rittern des
Co-Herzogs Solier und denen des Co-Herzogs Gris gegeben hatte. Zum
Glück war kein Blut geflossen. Dann sind unsere Ritter wohl gerade
bei Co-Herzog Gris, dachte Trix. Routine. Wenn sich zwei Herrscher
wie die Co-Herzöge Solier und Gris die Macht teilten, waren solche
Vorkommnisse keine Seltenheit.
»Ich nehme Eure Entschuldigung an«, sagte der CoHerzog Solier.
»Steht auf, edle Herren. Ich will hoffen, der Co-Herzog Gris lässt
gegenüber meinen Rittern ähnliche Milde walten.«
Der Ritter erhob sich. Er fuhr mit der Hand über den Metallgürtel,
der sein Wams hielt, worauf dieser klackte, sich versteifte und in
eine schmale, aber äußerst scharf aussehende Klinge verwandelte.
»Davon würde ich nicht ausgehen«, entgegnete er.
Das Türschloss war schon vor hundert Jahren eingerostet, der Schlüssel nicht viel später verloren gegangen. Soweit Trix wusste, waren die Gefängniszellen immer leer gewesen. Niemand hielt Wache, die Tür zum Gefängnistrakt stand stets sperrangelweit offen, die Gittertüren der Zellen waren zwar zu, aber nicht abgeschlossen. In seiner Kindheit war er ein paarmal hier unten gewesen, aber nie lange, dazu war der Keller einfach zu öde. Er war nicht einmal gruselig. Es gab wirklich nur verrostete Eisenstufen, rostzerfressene Fackelhalter, durchgerostete Türen und angerostete Gitter. Bestimmt wären in der feuchten Luft auch noch die Wände verrostet – wenn Stein hätte rosten können.
Vor drei Generationen waren die Soliers zu dem klugen Schluss gelangt, dass es weit vorteilhafter war, Verbrecher den städtischen Machthabern zu übergeben, statt sie in den eigenen Verliesen einzusperren. Es sparte nicht nur Geld, da die Notwendigkeit wegfiel, Gefängniswächter und einen Henker zu bezahlen, sondern ließ sie auch gut dastehen, da die Soliers dann ja nicht für die Entscheidungen des Gerichts verantwortlich waren. Als Zugabe traf es auch noch die Verbrecher härter, denn ein Gericht mit neun anonymen Schöffen fällt strengere Urteile als ein einzelner Co-Herzog, warum auch immer.
Man hatte auch gar nicht erst versucht, die Tür hinter Trix abzuschließen, sondern einfach eine Zelle mit halbwegs stabiler Gittertür ausgesucht. Dann hatte ein wortkarger Schmied in einem tragbaren Schmelzofen einen Eisenstab zum Glühen gebracht und die Tür damit zugelötet.
Das sicherste Schloss auf der Welt ist nun mal
eines ohne Schlüssel.
Trix saß in einer Ecke der Zelle auf seiner Jacke. Die Kleidung
hatten sie ihm gelassen, nur die Knöpfe abgeschnitten und den
Gürtel aus den Hosen sowie die Schnürsenkel aus den Stiefeln
gezogen. Damit er sich nicht umbrachte? Eine Zeit lang stellte sich
Trix schadenfroh vor, wie er die Ärmel der Jacke abriss, einen
Strick daraus knüpfte und sich an der Gittertür erhängte. Hatte
sich nicht einer seiner Vorfahren, Kelen Solier, bloß mit dem
Taschentuch aufgehängt, mit dem seine zahlreichen Wunden verbunden
gewesen waren?
Doch schon in früher Kindheit hatte Trix die Sache mit dem einen
Taschentuch, mit dem zahlreiche Wunden verbunden gewesen sein
sollten, kaum glauben können. Außerdem wären seine Feinde
vermutlich gar nicht traurig, wenn sie den jungen Co-Herzog mit
heruntergerutschten Hosen und heraushängender Zunge am Gitter
baumeln sähen. Im Gegenteil, er würde ihnen damit nur auf den Thron
verhelfen. Nein, besser, er ließ sich zum Tode verurteilen, mit
allem, was dazugehörte: ein korruptes Gericht und die Anwesenheit
seines treulosen Volkes. Da würde er seinen großen Auftritt haben.
Genau wie sein Vorfahr Diego Solier, dessen Rede auf dem Schafott
sogar den Henker zu Tränen gerührt hatte. Oder wie Renada Solier,
die Räubern in die Hände gefallen war, sie aber mit einer
flammenden Rede überzeugen konnte, ihr verbrecherisches Handwerk
aufzugeben und der Palastwache beizutreten.
Trix schnaubte. Sicher, er war erst vierzehn und schwärmte für alte
Chroniken – aber so naiv war er nun auch wieder nicht! Diego Solier
war geköpft worden, selbst wenn der Henker geheult hatte, als er
das Beil schwang. Und Renada Solier musste den Chef der Räuberbande
drei Tage und drei Nächte überreden, wobei Trix den unklaren
Eindruck hatte, die Nächte seien dabei wesentlich wichtiger gewesen
als die Tage.
Es ist leicht, von Heldentum zu träumen, während man die zarten,
vergilbten Seiten der alten Chroniken umblättert. Weitaus
schwieriger ist es, wenn die Werkzeuge des Folterknechts deine
eigenen zarten Finger zerquetschen.
Natürlich war Folter im Herzogtum streng verboten, mit Ausnahme
jener Fälle, die klar und eindeutig geregelt waren. Foltern, um den
Thronverzicht herbeizuführen, das tauchte allerdings nirgends auf.
Überhaupt war die Folter eines Kindes – und nach den Gesetzen des
Herzogtums galt Trix immer noch als minderjährig – nur in
Anwesenheit eines Arztes, eines Priesters oder einer »guten Frau
aus dem Volk« erlaubt, welche die Prozedur jederzeit unterbrechen
konnten.
Leider gab es etliche Formen der Folter, die keine Spuren
hinterließen. Nachdem Trix einmal mit stockendem Atem knapp die
Hälfte des Handbuchs für den ehrlichen
Inquisitor gelesen hatte, machte er sich da keine falschen
Hoffnungen. Die würden mit ihm machen, was sie wollten. Schließlich
war es auch strikt verboten, einen Co-Herzog zu stürzen.
Trix stand auf, tigerte durch die Zelle und versuchte, die Beine zu
lockern. Dabei musste er die Hosen festhalten, die ständig
herunterrutschten. Drei mal drei Schritt, was für ein Albtraum!
Konnten Menschen wirklich jahrelang in solchen Verliesen sitzen?
Bestimmt nicht! Doch eine gemeine Stimme in seinem Innern
flüsterte: »Du wirst es schon noch rauskriegen!«
Trix schüttelte den Kopf. Undenkbar! Entweder würden sie mit ihm
darüber verhandeln, dass er auf den Thron verzichtete – oder ihn
ermorden. Wenn sie ihn hier unten vermodern ließen, würden sie sich
ihr eigenes Grab schaufeln. Das bewiesen alle Schauspiele und
Balladen. In denen fand sich stets ein treuer Diener, der seinen
Herrn befreite. Oder der Held grub heimlich einen Gang aus dem
Verlies. Und dann scharte er eine Armee um sich und ließ seinen
Zorn an den Halunken aus.
Genau! Auch er würde seinen Zorn an ihnen auslassen!
Trix griff nach dem Gitter, spannte die Muskeln an und versuchte,
die Stäbe auseinanderzubiegen. Klein und mager, wie er war, würde
er einfach durch die Stäbe hindurchschlüpfen …
Richtig, er war klein. Und schwach. Die Stäbe gaben nicht nach,
mochte der Zahn der Zeit auch noch so an ihnen genagt haben. Trix
beschmierte sich bloß mit feuchtem Rost und hätte sich beinahe den
Kopf zwischen den Stäben eingequetscht – wahrscheinlich sehr zur
Freude der Gefängniswärter!
Er trat ein paarmal gegen das Gitter, doch dieses bemerkte die
Tritte nicht einmal.
Trix hockte sich wieder auf den Boden. Er hatte keine Angst. Nicht,
weil er von Natur aus mutig war, sondern einfach, weil alles zu
überraschend gewesen war … und zu banal. Niemand war handgreiflich
geworden. Dabei hatte er sogar versucht, mit dem Schwert auf einen
Ritter einzustechen.
Doch der hatte ihm schon beim ersten Ausfall das Schwert aus der
Hand geschlagen. Seinen Dolch konnte Trix dann gar nicht erst
ziehen. Der kräftige Ritter bog ihm – behutsam! – die Arme auf den
Rücken und brummte, er, Trix, solle besser keinen Widerstand
leisten, sonst müsse er, der Ritter, ihm wehtun. Dann waren noch
zwei Schurken hinzugeeilt. Zu dritt hatten sie Trix aus dem
Thronsaal gebracht, sein Vater, der sich ganz allein gegen den Rest
der Angreifer zur Wehr setzte, wurde da gerade in eine Ecke
abgedrängt.
Sie hatten Trix schnell und sorgfältig durchsucht, ihm den Gürtel
und die Schnürsenkel abgenommen, die Knöpfe abgeschnitten und das
Futter der Jacke abgetastet. Anschließend wurde er ins Verlies
gebracht. Nicht ein grobes Wort hatten sie zu ihm gesagt! Im Keller
hatte bereits der Schmied gewartet. Der Hofschmied des CoHerzogs
Solier! Ein mürrischer Mann, den aber niemand unter Druck setzte.
Mit seinem Hammer – daran hegte Trix nicht den geringsten Zweifel –
hätte er die drei Ritter mühelos erledigen können, die neben ihm
längst nicht mehr so kräftig wirkten.
Doch der Schmied brachte nur den Stab zum Glühen und verlötete
damit die Tür. Dann war er weggegangen – ohne sein Werkzeug
mitzunehmen, ohne sich noch einmal nach dem jungen Co-Herzog
umzudrehen, ohne auf dessen wilde Schreie zu achten. Und auch die
Ritter waren gegangen, nachdem sie die fast niedergebrannte Fackel
in einen Halter gegenüber der Zelle gesteckt hatten.
Trix rieb sich verlegen die Stirn. Er hätte besser nicht geschrien.
Schon gar nicht diese Worte. Dabei nahmen sie sich in den Chroniken
so gut aus: »Dreihundert Jahre dienten deine Vorfahren den meinen
treu und ergeben« und »Verrat lässt dein Herz verdorren« und »Es
ist die Wahrheit, die immer siegt«.
In seinem feuchten Verlies klangen diese Worte jedoch reichlich
komisch. Oben, inmitten von farbenprächtigen Gobelins und bunten
Mosaikfenstern, hätten sie sich besser angehört. Glaubte er
jedenfalls.
Die Fackel begann zu rußen. Trix legte den Kopf auf die Knie und
machte sich ganz klein. Früher oder später würden sie kommen. Jetzt
ließen sie ihn mit Absicht schmoren. Um ihn zu brechen. Das gehörte
nun mal dazu.
Irgendwo wurde eine Tür aufgerissen, dann noch eine. Trix hob den
Kopf und spähte voller Hoffnung in den Gang, durch den das helle
Licht einer Lampe fiel. Ob das die Palastwache des Co-Herzogs
Solier war? Ob sie die Rebellen überrascht und erschlagen
hatte?
Ein kräftiger Mann im Kettenhemd kam zur Zelle. Sid Kang. Der
Hauptmann der Wache des Co-Herzogs Sator Gris. Oder musste es schon
heißen: der Hauptmann der Wache des Herzogs
Sator Gris?
Trix schwieg.
Auch der Hauptmann schwieg. Ein guter Soldat, das hatte Trix’ Vater
über ihn gesagt. Er war öfter am Hof des Co-Herzogs Solier gewesen,
einmal hatte er sogar einen ganzen Tag drangegeben, um Trix den
Umgang mit der Armbrust beizubringen. Der Versuch war gescheitert,
aber Sid hatte nur die Schultern gezuckt und gesagt: »Ist nicht
deine Waffe, üb dich mit dem Schwert!«
»Weinst du?«, fragte Sid. »Nein? Gut!«
Trix grinste verächtlich. Wenn dieser Verräter – obwohl: seinem
Herrn Sator Gris diente er ja treu! –, wenn dieser mistige Soldat
glaubte, der junge Co-Herzog würde losheulen wie ein Küchenjunge,
der in eine Kammer gesperrt wird, weil er Marmelade geklaut hat,
dann hatte er sich gewaltig geirrt.
Sid drehte sich nach dem Kasten mit den Schmiedewerkzeugen um. Als
er sich darüberbeugte, rasselten die feinen Stahlringe seines
Kettenhemdes leise. Mit einer riesigen Zange in der Hand richtete
er sich wieder auf. Er nahm an dem Eisenstab Maß, schüttelte dann
aber den Kopf. Behutsam und voller Respekt legte er die Zange
zurück – um den Stab mit bloßen Händen zu packen.
Trix prustete. Was immer Sid vorhatte, ohne Werkzeug würde er das
Eisen nicht losbekommen.
Sid Kang runzelte die Stirn, als müsse er sich an etwas erinnern.
»Die Kraft kam zu mir wie die Windbö vor dem Sturm«, sagte
er.
Seine Handflächen umspielte ein blasses, kaum sichtbares blaues
Licht.
Ein Zauber!
Trix sprang hoch.
Ein schwacher Zauber, als hätte ihn ein unerfahrener Magier gewirkt
oder als sei er schon zu oft benutzt worden. Sid musste sich
nämlich trotzdem noch anstrengen, seine Armmuskeln traten hervor,
sein Gesicht lief puterrot an, aber ganz langsam löste sich der
Stab. Schließlich bekam er ihn frei und warf ihn weg. Die
Steinplatten des Fußbodens waren mit einer derart dicken
Dreckschicht überzogen, dass er beim Aufprall nicht klirrte,
sondern nur leise klatschte. Das Licht um Sids Hände
erlosch.
Sid Kang öffnete die Gittertür. Er sah Trix an. »Keine Angst,
junger Co-Herzog«, sagte er.
Diese Worte bedeuteten ja wohl, dass sein Vater tot war.
Trix schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter. Er hatte seinen
Vater nicht öfter gesehen als den Koch oder den Stallburschen.
Trotzdem war es sein Vater gewesen.
»Dein Vater ist tot«, erklärte Sid. »Er ist im Kampf gefallen. Wie
es sich ziemt. Du sollst auch umgebracht werden, Co-Herzog Trix
Solier.«
»Nur zu«, flüsterte Trix. Widerstand zu leisten wäre töricht
gewesen. Sid Kang war ein guter Soldat – und er ein schlechter
Thronerbe.
Sid schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig, Herr Trix. Sator ist
jetzt an der Macht. Er hätte dich geschont, aber sein Sohn ist
dagegen.«
»Wundert mich gar nicht bei meinem herzallerliebsten Cousin
Derrick«, sagte Trix. Die nächsten Worte kamen ihm von selbst über
die Lippen und diesmal kamen sie ihm nicht so lächerlich vor wie
die über Verrat und Treue. »Tu, was du tun musst,
Soldat!«
Der Hauptmann nahm schweigend einen leichten Umhang von der
Schulter und warf ihn Trix zu. »Zieh das an, Herr Trix. Warum
sollten wir sinnlos Blut vergießen? Ich bringe dich jetzt aus dem
Palast.«
Trix starrte den Umhang an, der auf seinen Beinen gelandet war.
»Was ist mit meiner Mutter?«, fragte er.
»Sie hat ehrenvoll gehandelt. Sie hat Gift genommen und ist aus dem
Fenster gesprungen.« Sid neigte andächtig den Kopf. »Es sind schon
fünf Menschen gestorben, Co-Herzog. Werde nicht der
sechste.«
Trix erwiderte kein Wort. Das Verhalten seiner Mutter verwunderte
ihn nicht, denn genauso wurde es in allen Balladen und Chroniken
beschrieben. Wahrscheinlich war sie durch das Fenster gesprungen,
das zum Stadtplatz hinausging, damit möglichst viele Untertanen
ihre Tat mitbekamen.
»Heul jetzt nicht, Trix!« Sids starke Hand legte sich ihm fest auf
die Schulter. »Dafür ist keine Zeit.«
Die Scheide mit dem Dolch an Sids Gürtel war zum Greifen nah. Er
brauchte bloß die Hand auszustrecken …
»Und mach keine Dummheiten«, warnte ihn Sid.
Trix nahm den Umhang an sich.
»Komm jetzt!«, befahl der Hauptmann.
»Ich brauche einen Strick«, sagte Trix zaghafter als
beabsichtigt.
»Wozu?«
»Meine Hosen rutschen.«
Kurzerhand schnitt Sid von dem Kasten mit den Schmiedewerkzeugen
einen derben Lederriemen ab und gab ihn Trix.
Unter dem Umhang wurde Trix warm. Er zog sich die Kapuze tief ins Gesicht, genau wie Sid es befohlen hatte, und hielt den Kopf gesenkt. Sie stiegen wieder nach oben, schmale und dreckige Gänge entlang – Trix erkannte sie nicht einmal wieder –, und erreichten den Innenhof. Alles war friedlich. Viel zu friedlich. Im Stall wieherten leise die Pferde, aus den offenen Fenstern der Küche hörte er Geschirr klappern, am Turm schlug die Uhr das erste Viertel nach Mitternacht. Trix hob den Kopf. In einigen Fenstern brannte Licht. Sogar die Palastwache stand da, wo sie stehen sollte – nur waren es jetzt andere Soldaten.
»Nur drei Diener haben bis zum Letzten Widerstand geleistet?«, fragte er.»Zwei«, antwortete Sid. »Der dritte ist auf der Flucht die Treppe runtergefallen und hat sich das Genick gebrochen. Schweig jetzt! Und verbirg dein Gesicht!«
Sie gingen zum Tor. Sid legte Trix den Arm um die Schulter und zog ihn eng an sich. »Alles ruhig?«, fragte er laut.
»Absolut, Hauptmann«, antwortete jemand mit dem Akzent der Menschen aus dem Süden. »In der Stadt auch. Und Ihr …«
Jetzt würde der Hauptmann seinen eigenen Mann
töten. So war das immer.
»Meine Freundin und ich machen noch einen kleinen Spaziergang«,
sagte Sid jedoch, bevor sie beide durch das Tor
hinausgingen.
Trix nahm ihm das nicht übel. Schließlich war ein Fürst aus dem
Geschlecht der Dillonen seinen Feinden sogar einmal in
Frauenkleidern entkommen. Seiner Gattin hatte er damals
Männerkleidung angezogen, seinem Sohn ein Mädchenkleid und seiner
Tochter eine Livree. Warum auch nicht? Wenn die Feinde überall
einen großen hageren Mann, eine dicke kleine Frau, ein Mädchen im
heiratsfähigen Alter und einen Jungen von drei, vier Jahren
suchten, musste man sich halt in eine große hagere Frau, einen
kugelrunden Mann, ein kleines Mädchen und einen jungen Diener
verwandeln. Und das Fürstentum Dillon war weitaus größer und älter
als die CoHerzogtümer Solier und Gris, das erkannte Trix unumwunden
an.
Mit einem Mal spürte Trix den Dolch von Sid Kang an seiner Kehle.
Er bekam es mit der Angst zu tun. »Mach ja keine Dummheiten!«,
ermahnte ihn der Hauptmann noch einmal. »Wir gehen jetzt runter zum
Fluss.«
Über einen schmalen Pfad an der Festungsmauer stiegen sie den Hang
hinunter, auf dem der Palast stand, und gelangten an den Fluss.
Hier gab es nichts außer einem hölzernen Pier, an dem einmal am Tag
die Fischer ihren Fang verkauften, und langen Holzstegen, um die
Wäsche zu waschen.
Ein Ort, bestens geeignet, sich das Leben zu nehmen.
»Gib mir den Umhang!«, befahl Sid.
Trix nahm den Umhang ab. Sollte er vielleicht doch ins Wasser
gehen? Aber das Ufer war ja viel zu flach! Bevor er untergehen
würde, hätte er Sids Dolch im Rücken. Die Nacht schien auch noch
mit dem Hauptmann im Bunde zu stehen: Am wolkenlosen Himmel prangte
ein voller Mond!
»Hier sind drei Goldstücke«, sagte Sid und hielt dem Jungen einen
kleinen Beutel hin. »Die reichen für zwei Monate.« Er schwieg kurz,
um dann hinzuzufügen: »Oder für einen Monat in Saus und Braus.«
Hauptmann Sid Kang war ein guter Soldat und achtete stets auf
Genauigkeit.
Trix sah ihn an und wartete ab. Unter dem Blick des Jungen wurde
Sid plötzlich verlegen. »Am Pier ist ein Boot«, knurrte er. »Ruder
und ein Proviantsack sind auch da. Fahr mit dem Strom, dann bist du
morgen Abend in Dillon.«
»Wirst du mich umbringen?«, fragte Trix. »Oder einer von deinen
Leuten?« Er deutete mit dem Kopf zu einem Hain. Im Schatten der
Bäume könnte sich durchaus ein Dutzend Soldaten mit Armbrüsten
verstecken.
»Wie kommst du denn darauf, Co-Herzog?«, fragte Sid
mürrisch.
Trix schielte zum Pier hinüber. Da lag wirklich ein Boot.
»Sator Gris wird wissen, dass mir jemand bei der Flucht geholfen
hat«, sagte er. »Man hat dich gesehen, als du den Palast verlassen
hast … mit jemandem, der sein Gesicht verbarg. Wenn du den
Wachposten getötet hättest, hätte ich dir geglaubt. Aber du hast
ihn am Leben gelassen. Also steckt ihr alle unter einer Decke. Ihr
werdet mich töten und behaupten, ich hätte versucht zu
fliehen.«
»Du kleiner Nichtsnutz!«, sagte Sid, ohne eigentlich böse zu sein.
»Ich habe dich gerettet! Und jetzt lauf!«
»So dumm bin ich nicht!«, flüsterte Trix. Er wollte wegrennen. Nur
zu gern. Aber er wusste, dass er Sid nur den Rücken zuzukehren
brauchte, und schon …
»Lass uns allein, Sid«, verlangte da eine Stimme. Ein Mann trat
zwischen den Bäumen hervor. »Es ist alles in Ordnung.«
Sid nickte wortlos und zog sich zurück.
Der Co-Herzog Sator Gris kam auf Trix zu.
Schlank und dunkelhäutig, wirkte er überhaupt nicht wie ein Mann
von fünfzig Jahren und war das genaue Gegenteil von Trix’ Vater.
Als kleiner Junge hatte Trix oft bei sich gedacht, der Co-Herzog
Gris sähe viel besser aus als sein Vater. Edler. Majestätischer. Ja
sogar mutiger, was für einen Nachfahren von Kaufleuten höchst
erstaunlich war.
»Ich weiß, dass du mich hasst, mein Junge«, sagte Sator. »Aber ich
will dein Leben wirklich schonen.«
Trix sagte kein Wort.
»Wenn du mir sagen willst, dass du mich hasst«, fuhr Sator fort,
»ist das jetzt die Gelegenheit. Auch, um mir deine Rache
anzukündigen. Ich nehme es dir nicht übel.«
»Ich hasse dich«, sagte Trix. »Und ich werde mich rächen. An dir
und an deinem Geschlecht. Das wird wieder mein Land und mein
Herzogtum sein.«
»Damit wäre das erledigt«, sagte Sator. »Und jetzt erkläre ich dir,
warum ich dich entkommen lasse. Natürlich nur, wenn du es hören
möchtest. Wenn nicht, dann steig ins Boot und fahr los. Es wird
dich niemand daran hindern.«
Trix zuckte die Schultern. Dabei brachte er eher ein Zittern
zustande, denn die Nacht war kalt und durch den nahen Fluss war es
fast so feucht wie vorhin in der Zelle.
»Gib dem Jungen den Umhang zurück, Sid! Er ist ja völlig
durchgefroren!«, rief Sator den Hauptmann noch einmal herbei.
»Also, Trix, ich kann auf sinnloses Blutvergießen verzichten. Wenn
deine Eltern sich zu einem Thronverzicht bereitgefunden hätten,
wären sie noch am Leben. Aber das wollten sie nicht. Und ich
respektiere ihre Entscheidung.«
Trix nahm den Umhang wortlos an sich und hüllte sich in ihn
ein.
»Wenn du eine reale Gefahr darstellen würdest, junger Solier,
müsstest auch du sterben«, fuhr Sator fort. »Aber du bist für mich
wertvoller, wenn du am Leben bist. Weißt du auch, warum?« Er legte
eine Pause ein. »Gerade weil du ein kluger und stolzer Junge bist,
der sich rächen will. Du wirst durch die Nachbarländer ziehen,
allen erzählen, dass du von Adel bist, und sie auffordern, sich
deinem Rachezug anzuschließen. Ich hoffe sehr, dass du zu einem
stattlichen Mann heranwächst … und, so die Götter wollen, eigenes
Gefolge um dich scharst oder über einen kleinen Staat herrschst.
Vielleicht stellst du auch eine Bande von Abenteurern zusammen.
Oder unsere ehrgeizigen Nachbarn unterstützen dich. All das wäre
hervorragend, mein Junge, ich würde es vorbehaltlos
begrüßen.«
»Derrick!«, platzte es aus Trix heraus.
»Richtig.« Sator lächelte. »Mein lieber Sohn, dein teurer Cousin,
ist ein wenig … wie soll ich sagen … undiszipliniert. Er ist klug
und begabt, aber leichtsinnig. Wenn er ein Herzogtum erhält, das
keine Feinde hat, verdirbt mir das den Jungen. Er braucht einen
Feind. Einen guten, ehrlichen und persönlichen Feind. Du bist wie
geschaffen dafür. Wenn er weiß, dass du lebst und nach Rache
dürstest, wird er nicht über die Stränge schlagen.«
Trix leckte sich über die Lippen. Sein Hals war ganz trocken, sein
Bauch hatte sich in einen Eisklumpen verwandelt. »Und wenn …«,
setzte er an. »Und wenn ich bis zur Mitte des Flusses rudere und
mich dann ins Wasser stürze?«
»Das wäre nicht schlimm«, antwortete der Co-Herzog lächelnd.
»Derrick müsste das nicht erfahren. Ein eingebildeter Feind ist
genauso viel wert. Aber ich würde dir raten, dein Leben nicht
wegzuschmeißen. Es ist nämlich ein großes Geschenk, auf das du
nicht in einer Minute der Schwäche verzichten solltest. Glaube mir,
du wirst noch genügend Gründe finden, um weiterzuleben.«
Der Co-Herzog zog einen kleinen Beutel aus seiner Tasche und hielt
ihn Trix hin. »Nimm das. Das ist … weil du meinen Plan durchschaut
hast. Hier sind zehn Goldstücke drin und ein paar Sachen mit dem
Wappen deines Geschlechts. Sie dürften dir helfen, deine Rechte
geltend zu machen.«
Ohne zu zögern, nahm Trix den Beutel an sich.
»Du bist ein guter Junge«, sagte Sator. »Schade, dass du ein Solier
bist. Aber nun fahr! Und mach dir keine Gedanken wegen der
Beerdigung deiner Eltern! Die Feierlichkeiten werden morgen
stattfinden. Sie werden in eurer Familiengruft
beigesetzt.«
»Ich gelobe«, sagte Trix, »dass ich auch deinen Körper in eurer
Familiengruft beisetzen lassen werde. Danach wird die Tür
zugemauert, denn nach dir wird es niemanden mehr geben, der dort
bestattet werden könnte.«
Der Co-Herzog Gris presste die Lippen kurz aufeinander. Dann nickte
er. »Hervorragend. Ein Satz, der würdig ist, in die Chroniken
aufgenommen zu werden. Und jetzt verschwinde aus dem Herzogtum
Gris!«
Trix ruderte, bis er das Boot in die Strömung gebracht hatte. Im
Frühjahr, wenn es viel Regen gab, oder in sehr heißen Sommern, wenn
die Eisberge schmolzen, trat der Fluss manchmal über die Ufer und
war sehr stürmisch. Aber dieser Sommer war feucht und kalt. Das
Boot schaukelte sanft auf dem Wasser, das Ufer zog gemächlich
vorbei.
Trix legte die Ruder beiseite und nahm sich die beiden Beutel vor.
Der von Sid Kang enthielt kein Gold, sondern nur drei Silberlinge –
schließlich brauchte selbst der beste Soldat stets Geld. In dem
Beutel von Sator Gris fand er aber tatsächlich zehn Goldstücke. Der
Herzog stammte nicht umsonst von Kaufleuten ab: Er betrog einen
nie, jedenfalls nicht, wenn es um Kleinigkeiten ging.
Außerdem entnahm Trix dem Beutel noch einen Hemdknopf mit dem
Wappen der Soliers, einen nicht allzu wertvollen Goldring mit zwei
kleinen Rubinen, der vermutlich einer der Hofdamen gehört hatte,
und einen winzigen Silberlöffel.
Er betrachtete nachdenklich, was ihm von den Familienschätzen
geblieben war. Nein, er hatte weder auf den Ring seines Vaters noch
auf das Großsiegel gehofft. Aber das! Jeder kleine Dieb stahl mit
etwas Glück an einem halben Tag mehr »Beweise« zusammen!
Trix stopfte den Kram zurück in den Beutel und legte sich auf den
Boden des Boots. Wenigstens leckte es nicht. Er lebte und war frei.
Er würde sich ins Fürstentum Dillon durchschlagen und sich an den
dortigen Herrscher wenden. Wer regierte da zurzeit eigentlich? Jar
Dillon war vor zwei Jahren gestorben, also hatte seine Tochter
jetzt die Macht. Oder ein Regent? Weil die Tochter noch zu jung
war?
Genau, ein Regent. Trix erinnerte sich sogar an ihn, ein
hochgewachsener, hagerer Mann, gallig und immer unzufrieden. Kurz
nach dem Tod von Jar hatte er dem Co-Herzogtum einen Besuch
abgestattet und irgendeinen Vertrag ausgehandelt. Sein Vater hatte
noch gesagt, der Regent habe in dem alten Streit um die
Grenzgebiete eingelenkt …
Wenn sich Trix an den Regenten erinnerte – warum sollte das dann
nicht auch umgekehrt der Fall sein?
Trix würde anbieten, ihm die Grenzgebiete zurückzugeben, ja ihm
sogar noch ein paar der ehemaligen Gebiete des Co-Herzogs Gris
abtreten. Trix brauchte eine Armee, und sei sie noch so klein. Wenn
er erst einmal ins Land der Soliers zurückgekehrt war, würde er die
Steuern senken, Verbrecher begnadigen und den Soldaten hohen Sold
zahlen. Dann würde seine Armee rasch anwachsen. So musste man die
Sache anpacken!
Sator Gris würde es noch leidtun, dass …
Da schlief Trix ein.
In sämtlichen Chroniken und Balladen hätte er nun von seinen Eltern
geträumt, die gesund und munter waren und mit ihm auf einer grünen
Wiese spielten. Oder von seinen gramgebeugten, verratenen und toten
Eltern, die ihn zur Rache aufforderten. Oder wenigstens von
kommenden Schlachten und Kämpfen, vom brennenden Palast des
Co-Herzogs Gris und von den jubelnden Massen, die Trix’
Thronbesteigung feierten.
Trix jedoch schlief fest und traumlos, wie jeder gesunde, aber
hundemüde Junge.
In historischen Chroniken und stimmungsvollen Balladen fährt ein den Wellen überlassenes Boot stets glücklich die Nacht hindurch. Bei Sonnenaufgang treibt es in eine Bucht, wo sich Trauerweiden über das mit Seerosen gesprenkelte Wasser neigen. Genau in dem Moment nähert sich eine junge und hübsche Prinzessin dem Boot. Sogleich fällt ihr Blick auf den in Seidentücher gewickelten Säugling männlichen Geschlechts (hat irgendwer einmal versucht, ein Baby in Seide zu windeln?) mit einem geheimnisvollen Amulett in dem kleinen Händchen oder den verletzten Ritter mit einem vom edlen Blut durchtränkten Seidenverband (Seide ist ein traditionelles und quasi obligatorisches Attribut). Und nur wenn im Boot friedlich ein Säugling weiblichen Geschlechts oder eine in (genau, richtig geraten) Seide gewandete Prinzessin schläft, darf es ein Mann von edlem Stand finden.
In Wirklichkeit passiert mit einem den nächtlichen Wellen überlassenen Boot mitten auf einem breiten Fluss allerdings Folgendes: Es kippt um, bleibt an einem untergegangenen Baumstamm hängen, zerschnellt an einem Felsen oder läuft auf eine Sandbank auf. Außerdem kann es einem anderen Boot begegnen, mit Menschen von gar nicht edler Gesinnung, die sich allein für die Seide interessieren, nicht aber für den darin eingewickelten Säugling – denn Mäuler haben sie selbst genug zu stopfen.
Von alldem ahnte Trix nicht das Geringste. Und so wunderte er sich auch nicht, als er, von den ersten Sonnenstrahlen geweckt, feststellte, dass das Boot friedlich dahintrieb.
(In der Nacht war es übrigens zweimal gegen einen Baumstumpf geprallt und hatte einmal eine halbe Stunde auf einer Sandbank gestanden, von der es durch die Wellen eines Fischkutters hinuntergespült wurde, dessen Insassen den Inhalt des Boots derart dringend untersuchen wollten, dass der Kutter an einem Fels kenterte und unterging.)
Trix stand auf und nahm den völlig durchnässten
Umhang ab.
Seide ist wirklich ein verdammt unpraktisches Material.
An beiden Ufern erstreckte sich eine idyllische Landschaft. Links
lagen Felder mit niedrigem Weizen, der gerade gelb wurde, rechts
saftige grüne Wiesen. Sogar feinen weißen Rauch machte Trix aus,
der ihm verriet, dass die Gegend bewohnt war. Menschen sah er
jedoch keine.
Nachdem Trix das Wasser misstrauisch betrachtet hatte, wusch er
sich. Anschließend beäugte er das Wasser noch genauer, formte die
Hände zu einer Schale und trank. In der Stadt hätte er das nie
gewagt, aber hier wirkte das Wasser sauberer. Klarer.
Der gestrige Tag schien weit weg, wie immer nach völlig
überraschenden und schrecklichen Ereignissen. Da Trix
Überraschungen jedoch nicht gewohnt war, freute er sich über den
beruhigenden Eindruck, alles sei schon in grauer Vorzeit
geschehen.
Trix kippte den Leinenbeutel mit dem Essen aus und inspizierte
seine Vorräte. Ein paar gekochte Kartoffeln, etwas Dörrfisch, ein
Stück Käse, ein halber Laib Brot und eine Flasche billigen Weins.
Vorbehalte gegen diese Art Essen hatte er keine, eine besondere
Vorliebe dafür allerdings auch nicht.
Trix öffnete die Flasche und trank einen Schluck von dem sauren
Wein – sein Instinkt sagte ihm, dass es nach dem Genuss des
Flusswassers gut wäre, das zu tun.
»He!«, erklang es da vom Ufer.
Eine kleine Figur fuchtelte wild mit den Armen. Trix erhob sich,
worauf das Boot gefährlich zu schaukeln anfing, und spähte zum
Ufer. Anscheinend ein Junge. Genauer gesagt ein Jüngling, nicht
älter als er selbst.
Nachdem der Jüngling sich sicher war, dass Trix ihn entdeckt hatte,
sprang er ins Wasser und kam, gegen die Strömung ankämpfend, zum
Boot geschwommen. Vorsichtshalber bewaffnete sich Trix mit einem
Ruder.
Der Grund für die Eile des Jünglings wurde rasch klar. Hinter ihm
tauchten am Ufer einige Männer auf, der Kleidung und auch den
Gegenständen, die sie in der Hand hielten, nach zu urteilen,
Dörfler. Die Verfolger stürmten allerdings nicht mit voller Kraft
durchs Korn, sondern versuchten, das Getreide zu schonen. Das
verschaffte dem Jungen einen Vorsprung.
Mitleid mit allen Verfolgten und Gehetzten ließ Trix das Ruder
wieder einlegen und dem Schwimmer entgegenrudern. Kurz darauf
schoben sich auch schon zwei Hände über die Bordwand, denen ein
roter Schopf folgte. Der Junge japste laut: »Folgen die
mir?«
»Die haben kein Boot«, antwortete Trix.
Der Junge nickte. Er sah Trix ängstlich an. »Nimmst du mich an
Bord?«, fragte er. »Ich kann nämlich nicht schwimmen!«
»Du bist doch auch hierher geschwommen!«
»Das habe ich nur aus Angst geschafft!«
Trix hielt ihm die Hand hin, beugte sich weit zurück und zog den
Jungen ins Boot. Bei genauerem Hinsehen war klar, dass er von dem
Flüchtling nichts zu befürchten hatte. Es war ein Junge, mehr
nicht, groß, aber jünger als Trix und so dünn, als sei er die Folge
von einem Experiment, mit dem eine neue Rasse wenig essender Kinder
herangezüchtet werden sollte.
»Warum sind die hinter dir her?« Trix nickte Richtung
Ufer.
»Wegen der Wahrheit!«, antwortete der Junge stolz. Er setzte sich,
zog sein Hemd über den Kopf und wrang es aus.
Verwundert bemerkte Trix, dass ihm die Kleidung des Jungen
schmerzlich vertraut vorkam, auch wenn sie überhaupt keine Knöpfe
oder Wappen aufwies.
»Wer bist du denn?« Trix versuchte, das Problem von einer anderen
Seite anzugehen.
Der Junge zog sich das Hemd wieder an und nahm eine aufrechte
Haltung ein. »Wisse, ruhmreicher Jüngling, dass du eine edle … äh
…«
»Tat?«, half ihm Trix.
»Tat vollbracht hast«, beendete der Junge erleichtert den Satz.
»Vor unabwendbarer Züchtigung und beschämender Gefangenschaft
rettetest du …«
»Die Chronik von Baron Hugh dem
Glücklosen«, murmelte Trix.
»… den Thronerben des Co-Herzogs Solier, Trix Solier.«
Trix starrte den Jungen an. Der schluckte und fuhr etwas unsicherer
fort: »Das wird dir vergolten. Du sollst meine Dankbarkeit
erfahren, sobald ich mir die Krone, das Land, die Truppen und den
Reichtum zurückgeholt habe …«
»Du sagst, du kannst nicht schwimmen?«, fragte Trix und langte
wieder nach dem Ruder.
»Das ist nicht nötig!«, lenkte der Junge rasch ein.
»Wer bist du?«
»Tri…« Der Junge verstummte. »Ian.«
»Was für ein Ian?«
»Nur Edelleute haben einen Familiennamen.« Der Junge zuckte die
Schultern. »Ich bin einfach Ian. Mein Vater war Gärtner. Meine
Mutter hat ihm geholfen. Sie sind am Fieber gestorben. Vor zwei
Jahren.«
»Warum hast du gesagt, du bist Trix?«, fragte Trix. »Und … woher
hast du dieses Hemd? Das ist … sehr teuer!«
»Na sicher«, brummte der Junge, während er über den Stoff strich.
»Das ist Seide, oder?«
»Das ist Samt, du Esel! Woher hast du es?«
»Das habe ich im Waisenheim der ruhmreichen CoHerzöge Solier und
Gris erhalten«, antwortete Ian selbstbewusst. »Zur ewigen
Erinnerung an den Co-Herzog Solier, mögen die Götter seine Seele
schützen, seinen irdischen und himmlischen …«
Trix legte die Hand erneut drohend ans Ruder.
»Gestern Abend, als die Ritter des Co-Herzogs Solier den Co-Herzog
Gris überfallen haben, dann aber gefangen wurden, worauf der
Co-Herzog sich aus Kummer umgebracht hat«, ratterte der Junge
herunter, »gab es in unserem Heim ein Feuer. Drei Seiten gingen in
Flammen auf, wir konnten uns kaum retten. Bestimmt haben
irgendwelche Schurken das Haus angezündet. Dann ist ein Ritter des
Co-Herzogs Gris gekommen und hat gesagt, das Heim ist aufgelöst. Er
hat uns großzügig die Kleidung des Thronerben Trix gegeben, der
braucht sie sowieso nicht mehr. Wir Jungen haben über alles
gesprochen und entschieden, dass wir den Sommer über, solange es
warm ist, herumvagabundieren. Und wo wir schon diese edlen Sachen
haben, warum sollen wir da nicht sagen, dass wir der Thronerbe Trix
sind, dem die Schurken seinen Thron geklaut haben und der deswegen
fliehen musste?«
»Und du meinst, man glaubt dir?«, entrüstete sich Trix. »Dann sag
mir doch mal, wie die … Großtante des Co-Herzogs Rett Solier
hieß?«
Der Junge runzelte die Stirn und legte dann los: »Lunida Solier.
Sie starb vor einem Jahr hochbetagt an der Meeresküste. In der
Jugend war die Dame sehr schön, was ihr viel Kummer bereitete … Wir
haben ein ganzes Jahr lang die Genelogie gebüffelt.«
»Genealogie«, verbesserte ihn Trix automatisch.
»Die Genealogie. Von den Soliers und von den Gris. Und von allen
Herrschern der Nachbarländer. Richtig wie bei Adligen.«
»Trotzdem … bist du ungebildet«, knurrte Trix. »Damit kannst du
bloß Bauern was vormachen. Du weißt ja nicht mal, wie man mit einer
Gabel umgeht.«
»Pah!« Ian reckte stolz den Kopf. »Und ob ich das weiß! Darf ich
meine Hosen auswringen?«
»Ja«, gestattete Trix mit einem Blick auf die Lache, die sich am
Boden des Boots gebildet hatte.
»Ich kann mit der kleinen Fischgabel umgehen, mit der großen für
Fleisch und mit der speziellen für Obst«, erklärte Ian, während er
seine Hosen (sie kamen Trix ebenfalls höchst vertraut vor) über dem
Wasser auswrang. »Du kannst dir nicht vorstellen, was wir alles
lernen mussten!«
»Wart ihr viele in dem Heim?«, wollte Trix wissen.
»Dreiundsechzehn … äh … dreiundsechzig. Plus zwei Köchinnen, am Tag
der Aufpasser …«
»Wart mal! Und alle dreiundsechzig Waisen haben die Kleider von …
von Trix bekommen?«
»Ja«, sagte Ian, als er seine Hosen wieder anzog. »Der hat
wahnsinnig viel Sachen! Allein schon fünfzig Hosen!«
»Sogar noch mehr«, bemerkte Trix. »Das sind gute Hosen … er hat sie
noch von seinem Vater, von seinem Großvater, ja sogar von seinem
Urgroßvater …«
»Ich habe von meinem Vater gar nichts. Alles ist verbrannt worden.
Weil er doch Fieber hatte.« Ian seufzte. »Wie heißt du?«
»Trix«, antwortete Trix mürrisch.
»Hätt ich mir denken können!«, grinste Ian. »Also, von mir aus bist
du auch Trix Solier! Aber wir müssen aus dem Herzogtum raus, die
Leute hier sind … die würden uns noch an den Herzog Gris
ausliefern. Hier würden wir eingesperrt, obwohl wir nichts
angestellt haben.« Er kicherte. »Aber in den Nachbarländern wären
wir in Sicherheit. Wo wir schon auf dem Fluss sind, sollten wir
nach Dillon fahren. Zum Regenten Hass.«
»Genau, zu Hass«, erwiderte Trix. »Ich weiß, dass er …«
»Er regiert für die Tochter von Dillon«, erklärte Ian. »Für die
Fürstentochter Tiana.«
»Fürstin«, verbesserte Trix ihn automatisch. »Fürstentochter hieß
sie, als ihr Vater, der Fürst, noch lebte. Aber jetzt ist er tot,
deshalb ist sie Fürstin … auch wenn sie nicht regiert.«
Trix erinnerte sich noch, wie ihm sein Vater vor zwei Jahren
erstaunt von der großmütigen Entscheidung des Co-Herzogs Gris
erzählt hatte, in der Stadt ein Waisenheim zu bauen, um Kindern im
Alter von Trix und Derrick eine anständige Erziehung angedeihen zu
lassen, damit sie in Zukunft an den Höfen der Co-Herzöge dienen
konnten.
Seine Mutter hatte etwas über den Nutzen von Wohltätigkeit gesagt
und versprochen, dass die Waisen einmal im Jahr eine selbst
gebackene Sahnetorte erhalten sollten. Ob sie ihr Versprechen
gehalten hatte, wusste Trix nicht, doch in Anbetracht von Ians
extremer Magerkeit hatte er so seine Zweifel.
Nun erklärte sich also diese Großzügigkeit von Gris. Das Heim war
genauso wenig ein Zufall wie die gestrige Schlägerei in der
Bierstube.
Wenn in den Nachbarländern sechzig Jungen auftauchten, die alle
behaupteten, der Thronerbe Trix zu sein – wie sollte der echte Trix
dann seine Identität beweisen? Schon nach einem Monat würde selbst
der brummigste Baron über die Worte »Ich bin der Thronerbe des
CoHerzogs Solier« lachen. Auch früher waren nach einem Putsch bei
Hofe überall Grafen und Herzöge aufgetaucht, die aus den Kerkern
geflohen waren, oder Erben und Erbinnen, die sich wie durch ein
Wunder hatten retten können, und schließlich zahllose Bastarde. Von
den ach so treuen Dienern, die um ein Almosen baten, ganz zu
schweigen.
Auch diesmal wäre es nicht anders gewesen, es hätte von Co-Herzögen
und Co-Herzoginnen Solier, von Trixen, Rittern und Dienern
gewimmelt. Sator Gris hatte lediglich auf Nummer sicher gehen
wollen, indem er die Situation ins Absurde gesteigert
hatte.
Wenn ihn der Regent Hass bloß erkannte!
»Wir müssen als Erste in Dillon sein«, sagte Trix. »Der Regent muss
sich an mich erinnern.«
»An wen?«, fragte Ian.
»An mich. An Trix Solier.«
Ian schnaubte.
»Aber ich bin Trix Solier!«, polterte Trix.
»Schon gut. Du bist Trix. Du hast ein Boot, also bist du Trix«,
lenkte Ian ein. »Aber warum willst du zu diesem
Regenten?«
»Sollen wir etwa in den Dörfern um Almosen betteln?«
»Also in Dörfern … Wer weiß, was die da mit uns machen«, sagte Ian
nachdenklich. »Vielleicht sollten wir uns einen armen, aber edlen
Ritter suchen? Oder einen Baron: Das Fürstentum Dillon mit seinen
zwölf Baronen kennt als ersten einen aus dem Geschlecht der
Dillonen. Der zweite ist Vit Kapelan, ihm schließt sich Liander als
dritter an. Als vierter ist Galan zu nennen …«
Ian ratterte die Namen verdächtig schnell herunter, und Trix, der
sich bei den Baronen immer vertat, fragte: »Was ist das? Ein
Merkreim?«
»Genau«, bestätigte Ian. »Im Fürstentum gibt es zwei Herzogtümer
und ein Co-Herzogtum, drei Marquisate, zwölf Lehnsbarone und vier
freie, die königlichen Gebiete mit den Rittern … Wie willst du dir
das alles merken? Aber wenn du die Namen nicht runterratterst,
setzt’s was!«
»Und wie merkst du dir die königlichen Ritter?«, fragte
Trix.
»Pass auf, das ist mein Lieblingsreim.« Ian hustete und hob an:
»Ritter Dogoro lebt im Osten, wo nur Felsen stehen Posten
…«
»Verstehe«, sagte Trix. »Trotzdem wirst du kein Trix.«
»Warum nicht?«
»Weil du rothaarig bist.«
»Ist das so schlimm?«, wunderte sich Ian aufrichtig. »Glaubst du,
jemand erinnert sich an Trix’ Haarfarbe?«
Trix sann traurig darüber nach, dass alle Helden in den Chroniken
ein besonderes Merkmal hatten: einer ein Muttermal in Form eines
Schwerts, ein Herzog sogar eines in Form einer Krone, und der
Marquis Daki hatte am linken Fuß sechs Zehen. Zur Not hätte sogar
ein Zauberdolch gereicht, ein Siegelring oder ein Pokal mit
Wappen.
»Willst du was essen?«, fragte Trix.
Ian nickte heftig.
»Dann merk dir eins: Ich bin der echte Trix Solier. Und du …« Trix
stockte.
»Dein Bruder, der in früher Kindheit verloren gegangen ist?«,
fragte Ian hoffnungsvoll.
»Nein!«
»Dann vielleicht dein treuer Knappe?«
»Ein Knappe muss vierzehn Jahre alt sein«, gab Trix zu
bedenken.
»Und genau das bin ich«, hielt Ian schlau dagegen. »Heute habe ich
Geburtstag und werde vierzehn. Wie der echte Trix. Knappe! Mit
weniger gebe ich mich nicht zufrieden!«
»Geh auf die Knie!«, befahl Trix.
Ian kniete sich gehorsam auf den Boden des Bootes.
Trix nahm eines der Ruder in beide Hände und ließ es vorsichtig auf
Ians Schulter nieder. »Ich, der Co-Herzog Trix Solier«, sagte er,
»erkläre dich, Ian, hiermit kraft meines Geburtsrechts zu meinem
Knappen, statte dich mit einem Wappen aus und erhebe dich in den
Adelsstand. Von heute an bist du Ian … Ian, der Chevalier des
Ruders. Dein Wappen ist ein silbernes Ruder auf blauem
Grund.«
»Ginge auch ein goldenes?«, hakte Ian nach.
»Ein goldenes Ruder ginge nur für Menschen mit blauem
Blut.«
»Ein silbernes tut’s auch«, gab sich Ian zufrieden.
»Ich, der Co-Herzog Trix Solier«, fuhr Trix fort, »verpflichte
mich, dich auszubilden und zu beschützen, dir Obdach und Nahrung zu
geben … soweit es mir möglich ist.«
»Kriege ich nicht auch noch ein einmaliges Recht?«
»Ich gewähre dir das Recht, mit dem Rücken zu mir zu sitzen«,
erklärte Trix großherzig. »Sonst wäre das Rudern für dich zu
unbequem.«
»Danke. Könnten wir dann die Sache mit der Nahrung vielleicht
gleich erledigen?«